Nach einer langen Zugfahrt von Loughborough nach London komme ich am Sonntagabend (01. Juni) bepackt wie ein Esel endlich nach St. Pancras. Dort heißt es erst einmal: Wo ist die U-Bahn und welche muss ich nehmen? Da gibt es eine rote, eine blaue, eine grüne … und jeweils zwei Richtungen auch noch. Jeeeeez. Nach längerem Suchen, Ticketkauf und furchtbar anstrengendem Gepäckschleppen über scheinbar endlose Treppen finde ich dann doch noch den richtigen Bahnsteig und meine allererste U-Bahnfahrt in London kann beginnen. Ich komme schließlich in eine nette Wohnstraße im Gebiet Epping Forest (Essex). Die Häuser sind größtenteils weiß, haben bunte Holztüren, in den Gärten gibt es schöne Sträucher und der Straßenrand wird gesäumt von den Autos der Bewohner. In einem wunderschönen Haus in so einer Straße durfte ich ab 01. Juni (33./34. Woche im Vereinigten Königreich) bei Bekannten wohnen. Brigitte kommt ursprünglich aus demselben Ort wie ich, ist aber vor über 30 Jahren nach England ausgewandert, wo sie seither mit ihrem Mann Ted und einem ihrer beiden Söhne wohnt. Sie hat mir dankenswerterweise angeboten, drei Wochen lang ihr Gast sein zu dürfen, um mir in dieser Zeit nicht nur London anzusehen, sondern auch einige Tage an ihrer Schule, wo sie assistant headteacher ist, zu verbringen und mir dadurch einen Eindruck vom Alltag an einer gemischten öffentlichen Schule in East London zu verschaffen. Und die Unterschiede zwischen „meiner“ Derby High School und der Dagenham Park Comprehensive School sind wirklich beträchtlich.
Dagenham Park ist zu allererst einmal viel größer. Neben dem Hauptgebäude gibt es noch eine Dining Hall, ein Leisure Centre (für den Kunst-, Geo- und DT-Unterricht) sowie eine Sports Hall. Die Stunden dauern hier gleich eine Stunde (nicht 35 Minuten wie in meinem Fall), dafür gibt es pro Tag insgesamt auch nur fünf. Der Stundenplan wechselt wöchentlich (week 1 and 2). An die 1200 Mädchen und Burschen gehen hier zur Schule. Die Hälfte von ihnen hat nicht Englisch als Muttersprache. Gebürtige Italiener, Russen, Rumänen, Litauer und Bulgaren gibt es hier – sofort fällt einem der Begriff „melting pot“ aus der Oberstufe ein. Natürlich sind deshalb auch Sprachdefizite ein großes Thema an der Schule – einige Lehrer unterrichten sogar ausschließlich EAL (English as a second language). Sie sind Teil des MFL-Departments, das, so wie alle anderen Departments, ein eigenes Büro inkl. WC hat – ein weiterer Unterschied zur Derby High School, wo jedes Department gerade einmal einen Tisch im staff room bekommt.
Die Schüler sind zwar zum Uniform-Tragen verpflichtet (Ausnahme: jene der Sixth Form), allerdings gibt es immer wieder Revoluzzer, die sich nicht an die Regeln halten und deshalb ermahnt werden müssen. Aja, die Disziplin … I don’t even know where to start, auch wenn es von Ofsted das Prädikat „good school“ gegeben hat. Nun gut, fangen wir vielleicht damit an, dass es an der Schule regelmäßiges Nachsitzen (detention) und einen „Social Inclusion Room (SIR)“ gibt. In diesen Raum werden all jene verbannt, die in puncto Disziplin über die Stränge schlagen. Im SIR stehen sie unter ständiger Aufsicht und müssen anstehende Arbeiten erledigen, aufs WC dürfen sie zwei Mal pro Tag – zu festgelegten Zeiten. Je nach Schweregrad des Vorfalls kann man ein bis fünf Tage dort verbringen, die Länge wird meist von Brigitte festgelegt. Größte Abschreckung dieser Institution: Man muss bis 16 Uhr bleiben, also eine Stunde länger als alle anderen Schüler, die nach der 5. Stunde (15.00 Uhr) nach Hause gehen. Die Gründe für einen „Aufenthalt“ im SIR können dabei variieren – von „Shut up!“ an einen Lehrer bis hin zum Schwänzen des Nachsitzens ist alles möglich.
Auch im EAL-Unterricht, bei dem ich am Montag in gleich drei Stunden dabei sein konnte, wurde mir klar, wie schlecht es um die Disziplin an dieser Schule steht. Eine der Lehrerinnen musste jemanden hinausschicken, generell wirkten viele der Schüler unkonzentriert, ein 12-jähriges Mädchen tauchte mit rosarotem Lippenstift auf. In der letzten Stunde des Tages war ich bei einer Lesesession mit zwei Schülerinnen aus Rumänien dabei. Sie waren etwa 15 oder 16 Jahre alt und seit einem Jahr in England. Englische Texte zu lesen ist für sie irrsinnig schwer, oft verstand ich nicht, was sie sagen. Wie können sie überhaupt in anderen Stunden folgen? Diese Frage stellte ich mir bei so einigen Schülern. Der EAL-Lehrer erzählte mir, dass die beiden fast nur Zeit mit anderen Schülern aus Litauen verbringen, wodurch ihre Englischkenntnisse natürlich auch nicht besser werden.
Am Dienstag war ich nicht nur dafür zuständig, einem Burschen eine schönere Handschrift beizubringen, sondern mir wurde auch viel über die GCSEs an der Schule erzählt. Auch hier wieder ein Unterschied zwischen Derby und Dagenham: An meiner Schule schafften es heuer 100% der GCSE-Kandidaten fünf Noten zwischen A* und C (inklusive Mathe und Englisch) zu erreichen, an der Dagenham Park School nur 59% (entspricht dem englischen Durchschnitt!). Da sich britische Schulen stets mit ihren Prüfungsergebnissen brüsten (die übrigens ausschließlich extern zustande kommen), ist auch klar, warum eine Derby High School 7.000-11.000 Pfund Schulgeld pro Jahr verlangen kann.
Ebenfalls anders ist, dass man hier in London statt den normalen GCSEs auch sogenannte „BTECs“ machen kann, die man wahrscheinlich am besten als vocational (= berufsorienteierte) GCSEs beschreiben kann, denn man kann z.B. Prüfungen in Business, Media Production und Travel & Tourism machen. Allerdings braucht man bestimmte Noten, damit die BTECs mit den GCSEs äquivalent sind.
In der Früh konnte ich bei GCSE und A-level-Prüfungen in der Sports Hall dabei sein. Seeeehr krasse Sache: Jeder muss sämtliche Taschen und Mäntel abgeben und sitzt auf einem Einzeltisch. Schummeln quasi unmöglich. Je nach Fähigkeiten bearbeitet man entweder das „foundation paper“ (bestmögliche Note ist ein C) oder das „higher paper“ (beste Note ist ein A*).
Tags darauf wurde ich mit den SEN-kids (special educational needs) vertraut gemacht. Ich saß in einer Mathe-Stunde mit lauter 15 und 16-Jährigen. Es ging um … die Grundrechnungsarten, that’s right. Die meisten der Schüler in dieser Gruppe waren schwer beeinträchtigt und können sich daher nur wenig von den vergangenen Stunden merken. Ihr Lehrer gab ihnen Tipps für die GCSE-Prüfung (besser weniger machen und das dafür richtig) und war unwahrscheinlich geduldig mit ihnen. Ich könnte das nicht. Impressive.
Spannend war an diesem Tag auch die Spanisch-Einheit in der ersten Stunde. Davor war ja wie immer „form time“, in der nicht nur die homework diaries kontrolliert, sondern auch eine kurze BBC-Newsround angesehen und besprochen wird. Etwa 20 Schüler saßen in dieser Klasse – für Sprachunterricht ganz schön viele. Ihre Lehrerin versuchte, den Unterricht möglichst interaktiv und lustig zu gestalten, erstmals sah ich auch einen „visualizer“, mit dem man eine Buchseite auf die Wand projizieren kann – good stuff. Nachher ging’s für alle an den PC, denn in Dagenham gibt’s in jedem (!) Klassenzimmer genügend Computer für alle. War es eine gute (= ruhige) Stunde, dürfen die letzten fünf Minuten am PC verbracht werden. Whaaaaaaaat?!
Donnerstag dann der pure Horror: Eine Mathestunde mit lauter schwierigen Schülern (behaviour issues). Die (noch junge und aus Deutschland kommende) Lehrerin hatte alle Hände voll zu tun, auch wenn es nur 12 Kinder waren. Sie sind in Mathe alle im „set 7“, denn in den Fächern Englisch, Mathe und science gibt es quasi Leistungsgruppen (bis zu 9 pro Jahrgang). Ich war nach der Stunde richtig erschöpft … Ebenfalls shocking war die EAL-Stunde an diesem Tag: Ein etwa 11-jähriger Bub aus Rumänien konnte nicht lesen und schreiben, da er erst seit wenigen Monaten in die Schule geht. Mein Lehrerkollege versuchte, ihm mühevoll Buchstaben und Zahlen beizubringen. Sein Vorteil: Er spricht nicht nur Englisch, sondern auch Rumänisch. Andernfalls wäre das Ganze wahrscheinlich gar nicht möglich.
Am letzten Schultag dieser Woche erlebte ich schließlich eine äußerst angenehme Stunde: Mit einer sehr guten Gruppe von Year 8 lernte ich im Fach Geografie über Küsten und Wellenformationen. Hier gibt es sogar so etwas wie Disziplin, immerhin ist die Lehrerin sehr streng. Trotzdem bewies sie am Ende der Stunde, dass sie auch anders kann: „Why do I want the monitors to be turned off? To save the polar bears!“ Ebenfalls positiv schien mir, dass sie ihre Schüler auf die Arbeitsweise an der Uni hinweist und sie so zum Mitschreiben animiert. Vergleichsweise ruhig lief an diesem Tag auch die EAL-Stunde, in der die Schüler „news reader“ sein durften. 5 Ws und so. Die Journalisten wissen, wovon ich spreche.
So, nun aber genug mit der Schule. Abgesehen davon habe ich in dieser Woche natürlich auch noch viel anderes erlebt. Bei meinen „Gasteltern“ etwa konnte ich abends immer wieder fernsehen und ja, das war etwas Besonderes für mich, hatte ich in Derby doch keinen Fernseher.^^ „The Apprentice“ und „The Voice“ werden mir in guter Erinnerung bleiben (vor allem der Tee und die Kekse dazu :D). Und am Wochenende konnte ich zusammen mit Brigitte einen Teil der City of London entdecken – Samstag den Covent Garden (inklusive großartigem street artist), Royal Opera House, Harrod’s (Klopinsel für 500 Pfund!), Hyde Park (Wo ist der verdammte Speaker’s Corner?) und die berühmte Oxford Street. Und am Tag des Herrn schließlich die Tower Bridge, St. Paul’s Cathedral und die Gegend rundherum. Bei der Gelegenheit machte mich Brigitte auch mit einem wunderbaren Getränk vertraut – „Pimm’s“ heißt’s und ist sehr erfrischend, aber leider auch teuer. 😉
Some pix from London: